Friedensprozess: Ein Schritt vorwärts, zwei zurück. Eine Illusion, die zu einer Katastrophe wurde
„Seit der Unterzeichnung des Friedensvertrags (fälschlicherweise als Abkommen bezeichnet) haben wir eine echte Tortur durchgemacht. Von dieser angeblichen `bestmöglichen Vereinbarung´, die mehr als 60 Jahre Konflikt beenden würde, sind heute nur noch die Fetzen übrig, die ein beklagenswerter offizieller Sektor von Der Rose [die Partei FARC] mit Sabbern festhält, um ihre Feigheit und Schamlosigkeit zu verbergen. Es waren vier Jahre totaler Perfidie seitens des Establishments. Das von der extremen Rechten durch den Mund von Fernando Londoño ins Leben gerufene Epitheton, `dieses verdammte Papier zu zerreißen´, war der Auftakt zu der Tatsache, dass die `pacta sunt servanda´ [Verträge sind einzuhalten] nur ein leeres Konzept für eine kriminelle und kleinliche Oligarchie war, die das Land von der Klippe des Bürgerkriegs regiert.“
Das sind die einführenden Worte eines siebenseitigen Briefes von unzufriedenen ehemaligen Kommandierenden der mittleren Ebene des militärischen Ostblocks der FARC-EP. Verfasst wurde dieser Brief vor wenigen Tagen und er zeigt deutlich auf, dass es große Kreise innerhalb der ehemaligen FARC-EP gibt, die nicht nur unzufrieden mit der Umsetzung des Friedensabkommens sind, sondern ebenso unzufrieden mit der Politik der aus der Guerilla heraus entstandenen Partei FARC sind, die aufgrund ihres Symbols auch als Partei der Rose bezeichnet wird. Es ist ein Abgesang auf die revolutionären Prinzipien und die Geschichte der Guerilla.
In dem Brief wird erst einmal beschrieben, wie das Abkommen nach und nach zerrissen wurde. Die vollmundigen Ankündigungen von rechten Politikern wurden bald in die tat umgesetzt. Die Agrarreform kaum angetastet, keine Sicherheitsgarantien für die ehemaligen Kämpfer und keine Bekämpfung des Paramilitarismus, was sich auch in den Zahlen von ermordeten Personen ausdrückt, keine Reform des politischen Systems, sondern noch mehr Stimmenkauf und Korruption, sowie keine Aufarbeitung des bewaffneten Konfliktes und der Geschichte des Landes.
Zur gleichen Zeit gab es für die Wiedereingliederung der ehemaligen Kämpfer in das zivile Leben keinen Zentimeter Land für produktive Projekte. Stattdessen gab es bürokratische Hindernisse und Ausgaben für einen Workshop nach dem anderen, in denen zusammen mit der internationalen Gemeinschaft der Frieden gelobt wurde, aber die sich im Prozess der Wiedereingliederung befindlichen Personen in Elend und Hoffnungslosigkeit stürzten. Und tatsächlich ist dies auch die Rückmeldung aus den sogenannten ehemaligen Wiedereingliederungszonen und anderen Projekten im Land. Nur im Schneckentempo kommen die verschiedenen Projekte voran, Unterstützung seitens der Regierung gab es kaum, eher versuchte sich die Mehrheit auf eigene Faust durchzuschlagen, als im gescheiterten kollektiven Prozess.
Auf der X. Nationalen Guerillakonferenz und dem Gründungskongress der FARC-Partei (heute besser bekannt als „Partei der Rose“) war zunächst vorgesehen, was in naher Zukunft passieren sollte: Die Aufgabe des Kämpfens mit der Waffe hin zur Politik. Was jedoch geschah, war die Positionierung einer „Klientel“, die sich seit Havanna [dem Verhandlungsort] um einen kleinen und wohlhabenden sektiererischen Kern herausgebildet hatte, während die ehrlichen Revolutionäre darüber nachdachten, wie sie der farianischen [Ideologie der FARC-Guerilla] Ideologie Kontinuität verleihen könnten, nicht mehr aus der Waffen, aber aus der Politik heraus.
Gleichzeitig wurde auf groteske Weise der Wille, der bei der Abstimmung zum Ausdruck gebrachten Delegierten im Gründungskongress ignoriert und die Machtergreifung von Timo [gemeint ist Timochenko] in der Führung der Partei zynisch argumentiert. Die Konsolidierung des opportunistischen und wohlhabenden Kerns hing von seiner Mittelmäßigkeit ab, von dieser Position aus widmete sich der brandneue Präsident der Partei zusammen mit seinem Testamentsvollstrecker Gabriel Ángel der Verleumdung der Geschichte der revolutionären Organisation. Gabriel Ángel, der blumige Geschichten schrieb und die wahre Geschichte der Guerilla hintertrieb. Sehr bald begann sich die ehrliche Basis von dieser Maskerade zurückzuziehen.
Der große kritikpunkt ist immer wieder, dass sich die hochrangigen Kommandierenden um Timochenko daran machten, die Zerstückelung der Partei zu feiern und alle Kritiker hinaus zu werfen. Sie waren nicht mehr daran interessiert, ein revolutionäres politisches Projekt zu stärken, sondern daran, um tunlichst alle Möglichkeiten für öffentliche Ämter und für die Staatsbürokratie im Namen der Wiedereingliederung beizubehalten und daran zu verdienen. In ihrer Argumentation fantasierten sie einen ideologischen Kampf zwischen Revolutionären und Reformisten herbei. In wirtschaftlicher Hinsicht bemüht sich Pastor Alape, ECOMUN zu schwächen, die Plattform der wirtschaftlichen Projekte in der Wiedereingliederung. Er berief ihm nahestehende Leute und versuchte innerhalb der FARC eine eigene NGO zu schaffen. Dabei wurde er auf dem Kongress nie dafür von den Kämpfern auserwählt, sondern vom alten Sekretariat [dem höchsten Gremium der Guerilla] ausgewählt.
Diese Strukturen jedoch, das alte Sekretariat und auch der ehemalige zentrale Generalstab, existieren jedoch seit der Auflösung der Guerilla nicht mehr. Trotzdem behielten ihre ehemaligen Mitglieder ihre Macht und widersetzten sich den neuen demokratischen Maßstäben, als hätten sie ihren Übergang in die zivile Welt nie vollzogen. Diese Hierarchie wird immer wieder von der FARC nahestehenden Leuten kritisiert. Die Führungspersonen in der heutigen Partei FARC haben sich komplett von der Basis und der Lebensrealität, die existenzbedrohend, hart und gefährlich ist, entfernt.
Heute kann beobachtet werden, wie die Partei ihre revolutionären Prinzipien aufgegeben und sich zu einer liberalen Partei entwickelt hat. Chaotische Formen der Arbeit, die Partei der Basis wurde aufgegeben, um heute eine Partei der Angestellten zu werden, die mit Positionen und Gehältern verbunden sind, was sich in dem Entfernen von mehr als 11.000 ehemaligen Kämpfern von den 13.400 erklärt, die das Abkommen unterzeichnet und die Entwaffnung vollzogen haben. Die im Gründungskongress festgelegte Abkehr einer revolutionären Organisation marxistisch-leninistischen Charakters führte dazu, dass die Partei mehr als 80 Prozent ihrer Mitglieder verlor und eine winzige Gruppe von Parteimitgliedern ohne Kompass, ohne Pläne und ohne klare Organisation und ohne Berufung zur Macht geworden ist.
Jetzt, auf dem Januar-Kongress, wird die Partei den historischen Namen ändern. Nach der Abkehr des Marxismus-Leninismus und der Aufgabe der alten Basis sind sie in die Verwaltung von Gruppen und Fäden geraten, die in interne Kämpfe verwickelt sind, was die FARC-Partei zu ihrer vollständigen Zerstörung und zu ihrem Verschwinden als historisches Projekt führt. Schlimmer noch, denn nun diskreditieren sie die alte Guerilla, wie den militärischen Ostblock, als ein Kartell von Drogenhändlern und verkennen jegliche damalige Situation. In dem Brief werden die heutigen Parteiführer als die größten Nutznießer des Drogengeldes benannt. Sie erwirtschafteten nichts und lebten von der Arbeit, dem Schweiß und dem Blut der Guerilleros. Es folgen weitere persönliche Angriffe auf heutige Parteiführer mit den Hinweis, die Geschichte der Guerilla zu verleumden, um ihre Weste weiß zu waschen.
Und zum Ende des Briefes der klare Abgesang an die revolutionären Prinzipien und die Geschichte der FARC-EP: „Wenn wir also zu dieser Demobilisierung kommen, die als Euphemismus der Wiedereingliederung getarnt ist, wenn wir in einen Prozess verstrickt sind, der nie der Traum unserer wahren Kommandanten war, wenn das, was in Havanna geschaffen wurde, von Bauern und Arbeitern als eine Abgrenzung zu marxistisch-leninistischen revolutionären Prinzipien angesehen wird, dann deshalb, weil eine Clique von `nur Politikern´ ins Sekretariat und in den Zentralen Generalstab kam, die angesichts ihrer Unfähigkeit, Guerillakriege zu führen, nur auf dem Weg zur versteckten und bedingungslosen Kapitulation war. `Politiker´ schließlich, vor denen uns Genosse Jorge [gemeint ist Jorge Briceño als ehemaliger Kommandant des militärischen Ostblocks] uns so sehr gewarnt hat; `Politiker´, die als einzige in die Geschichte eingehen, die in der Lage waren, die Guerillabewegung der FARC EP zu besiegen.“
Und abschließend: „Ehemalige Genossen der Guerilla, Bauern, Kolumbianer: Frieden, die Illusion von Frieden, soziale Versöhnung und andere Inbegriffe, mit denen wir Klassenversöhnung bezeichnen wollen, wurden innerhalb der Guerillabewegung nie verkündet; es war die Rede vom Friedensprozess ja, als eine Form des Kampfes, des Anhaltens um voranzukommen, vom Dialog um zu wachsen, nicht als strategisches Ziel. Wir haben das strategische Ziel im strategischen Ansatz verfolgt: Die Revolution, die Machtergreifung für das Volk, ohne zu vergessen, dass es keine friedlichen Revolutionen gibt, dass alle gewaltvoll sind, den Willen einer sozialen Klasse über eine andere zu etablieren. Das ist der revolutionäre Frieden, für den die FARC EP gekämpft hat.“