Es sind die größten und längsten andauernden Proteste in Kolumbien seit Jahren. Sie werden von allen Bevölkerungsgruppen getragen, auffällig ist jedoch, wie stark die Jugend bei den Protesten vertreten ist und wie kraftvoll und radikal die Proteste vorangetrieben werden. Sie zeigen dabei deutlich, dass es eine große Unzufriedenheit mit der Regierung und der korrupten Klientelpolitik gibt. Die Regierung antwortet wie so häufig mit Gewalt und Repression. Auch dies verdeutlicht, Kolumbien ist ein Land, bei dem eine Minderheit – auch mit Gewalt – die Interessen gegenüber einer Mehrheit vertritt. Wendet sich nun das Blatt?
Ursächlich für die aktuellen großen Proteste, die teilweise das Land lahmlegen, sind mehrere Gründe. Da ist zum einen die fehlende Umsetzung des Friedensabkommens und die gestiegene Gewalt, vor allem in den ehemaligen Konfliktzonen. Während unter Ex-Präsident Santos noch versucht wurde, das Friedensabkommen in einigen Teilen zu erfüllen, äußert sich der aktuelle Präsident Duque ganz klar, dass er daran kein Interesse hat. Des Weiten sorgte eine Ankündigung zur Steuerreform, zum Nachteil der weniger besitzenden Mehrheit, für die Bereitschaft auf die Straße zu gehen. Dazu gesellen sich strukturelle Probleme in einem Land, das an natürlichen Ressourcen reich ist, von dem die Bevölkerungsmehrheit aber nicht partizipiert, sondern nur die Konzerne und Großgrundbesitzer. Covid19 hat die strukturelle Ungleichheit noch verschärft.
Doch statt Lösungsansätze zu präsentieren und den Dialog zu suchen, reagiert die Oligarchie wie gewohnt, sie setzt auf Militarisierung, um die Proteste niederzuschlagen. Dies kennt sie bereits aus der Aufstandsbekämpfung gegen die Guerilla. Es ist jedoch diese Spirale, die immer dafür gesorgt hat, dass sich viele Personen der aufständischen Bewegung angeschlossen haben, auch wenn diese nicht maßgeblich für die Proteste verantwortlich ist. Bei den Zusammenstößen sind rund 30 Menschen ums Leben gekommen, Hunderte verletzt, die meisten von ihnen Demonstranten, fast 100 werden derzeit vermisst. Das sind beeindruckende und traurige zahlen. Wer für diese Gewalt und Repression verantwortlich ist, der hat den Kontakt zur Bevölkerung, den Kontakt zum einfachen Volk, verloren.
Interessant ist, dass die Unruhen nicht nachgelassen haben. Stattdessen ist die Menge der Protestierenden und Wütenden nur noch gewachsen, angeheizt von der Empörung über die Reaktion der Regierung. Zu den Demonstranten zählen jetzt Lehrer*innen, Ärzte, Studierende, Mitglieder großer Gewerkschaften, Indigene, langjährige Aktivist*innen und Kolumbianer*innen, die noch nie zuvor auf die Straße gegangen sind. Kolumbien in den letzten Tagen, das sind Bilder wie aus einer Militärdiktatur mit Toten und Verletzen in den Straßen. In Cali, in Ibagué, Bucaramanga, Neiva, Manizales, Medellín, Pasto, Popayán, Pereira, Bogotá und vielen anderen Orten sowie großen Verbindungsstraßen im Land.
„Die Generäle Zapateiro und Vargas, von der Armee und der Polizei, sie sind Monster, Mörder, die als nützliche Idioten für die Tyrannei fungieren. Und sie sind Idioten, weil sie wissen, dass der Uribismus in die schlimmsten Verbrechen gegen die Menschlichkeit der bewaffneten Institutionen verwickelt ist, wie die sogenannten falsos positivos, und dann werden sie allein gelassen und ausnahmslos verlassen, wenn sie vor dem Gericht Gesicht zeigen müssen. Die Tage der Straflosigkeit der Determinanten des staatlichen Völkermords sind gezählt. Duque und Uribe, Zapateiro und Vargas, müssen sich für diese Toten verantworten. Wir rufen alle bolivarischen und patriotischen Militärs auf, die Offiziere, Unteroffiziere und Soldaten der Luftwaffe, der Armee und der Marine, um den Nationalstreik zu unterstützen“, heißt es in einer Erklärung der aufständischen FARC-EP, Zweites Marquetalia.
Einzelne Personen aus den staatlichen Sicherheitskräften haben sich schon klar dazu positioniert, dass sie nicht auf das Volk schießen werden. Doch bisher sind es nur Einzelne. In jedem Fall werden diese Proteste das Land verändern. Die Militarisierung des Landes kann zwar kurzfristig die Proteste stoppen, aber nicht den Kampfeswillen vieler Menschen, die von einer korrupten Regierung im Stich gelassen werden. Die Aufrufe aus den aufständischen Bewegungen, klandestine Zellen zu bilden, die politische Untergrundbewegung aufzubauen und den politischen und militärischen Kampf mit der Guerilla fortzuführen, werden nicht unerhört bleiben. In solchen Zeiten zeigt sich immer, dass der aufständische Kampf durchaus gerechtfertigt ist.
„… Inzwischen sind die fundamentale Bastion der politischen Opposition gegen das oligarchische Regime die von der Guerilla kontrollierten Berge. In diesen letzten Jahren wurden zwei ganze Generationen von populären Führern, die ihr Streben nach sozialem Wechsel und Veränderungen manifestierten, vom bewaffneten Apparat des Staates, der bei seiner schmutzigen Mordtätigkeit keine Waffenruhe gewährte, umgebracht.
Eben aus diesem Grunde bleibt der revolutionäre Guerillakampf ein wertvolles Instrument des Kampfes um demokratische Veränderungen in unserem Land. Und solange die Regierungen die Politik des internen Krieges weiter betreiben, wird er auch die einzige Möglichkeit bleiben.“
Aus: Resistencia International (Deutsch) – Sondernummer Jan. 2000