In einem offenen und dreiseitigen Brief vom 22. Mai schreiben die dissidentischen Strukturen der FARC-EP, dass sie die politische Lösung nicht aufgegeben haben und im ganzen Land stark an Territorium zurückgewonnen haben. Interessant ist, dass der Brief aus den Strukturen der sich neu bewaffnenden und neu organisierenden FARC-EP kommt, die nicht zum Kommando unter Iván Márquez, Jesús Santrich und anderen ehemaligen Kommandierenden gehören und sich als „Zweites Marquetalia“ bezeichnen. Der aktuelle Brief gehört zu den sogenannten dissidentischen Strikturen der FARC-EP um Gentil Duarte und der 1. Front Armando Riós und den Strukturen aus dem Cauca. Erkennbar wird hier, welche politisch-militärischen Strukturen, also Fronten und mobile Kolonnen, zu dieser neuen FARC-EP gehören, die in der Öffentlichkeit als weniger politisch gilt als die FARC-EP, Zweites Marquetalia.
Zwischen beiden dissidentischen Strukturen der FARC-EP gibt es einen Machtkampf. Während die den Brief unterzeichnenden Strukturen als militärisch kraftvoll gelten, mit viel territorialer Kontrolle und viel Zugang zu illegalen Geschäften, gilt die FARC-EP, Zweites Marquetalia, als politisch sehr gefestigt, verfügt sie doch über eine Reihe ehemaliger und anerkannte Kommandanten der Ex-FARC-EP und mit Iván Márquez über den ehemaligen Verhandlungsführer der Friedensgespräche, jedoch wird ihre militärische und territoriale Stärke als gering eingeschätzt. Nur wenige militärische Strukturen der sich neu bewaffnenden und neu organisierenden Guerilla haben sich bisher unter ihrem Kommando gestellt.
In einem offenen Brief an verschiedene progressive Kongressabgeordnete, an Pater Francisco de Roux, an diverse Organisationen, die sich für den Frieden einsetzen, an Menschenrechtsverteidiger und soziale Aktivisten, an den Erzbischof von Popayán oder an den Rektor der Universität von Cauca, schreiben sie, dass „wir nach vier Jahren harter politisch-militärischer Arbeit auf nationaler Ebene einen Großteil der Gebiete, in denen wir präsent waren, wiedererlangt haben.“ In einem anderen Teil des Kommuniqués, dass sich viel mit der Situation in der Provinz Cauca auseinandersetzt, wird betont, dass „das Gründungsprinzip, auf das wir niemals verzichten, die politische Lösung des ernsten sozialen Konflikts ist, den das Land erlebt. Zweifeln Sie nicht daran, dass unser historischer Wille zum Frieden intakt bleibt.“
Das Kommuniqué fügt hinzu, dass „diejenigen von uns, die vor der X. Nationalen Guerillakonferenz tiefgreifende Unterschiede in Bezug auf die Richtung des Friedensprozesses, über die wenigen Garantien für dessen Umsetzung und die Zukunft ehemaliger Kämpfer hatten, über die Debatte über die Waffenniederlegung oder Entwaffnung unter anderem, haben wir nie auf die politische Lösung der schweren sozialen Krise verzichtet, die dieses Land durchmacht und die der Motor unseres Kampfes ist.“ Die aufständische Organisation betont, eine militärische politische Organisation zu sein, Weiterhin wird betont, dass die FARC-EP eine militärpolitische Organisation ist, die die Menschenrechte und das humanitäre Völkerrecht anerkennt und respektiert. „Weder die Bedrohung noch der Mord an sozialen Führern, ehemaligen Kämpfern, noch Menschenrechtsverteidiger ist Teil unserer revolutionären Prinzipien, es wäre undenkbar, dass wir die Menschen angreifen oder ermorden, die wir verteidigen, von denen wir uns ernähren und für die wir kämpfen.“
Ein Schwerpunkt ist die Beurteilung der Lage im Cauca, bei der zuletzt der Armeegeneral Wilson Chávez hinwies, dass die FARC-EP für die Morde und Drohungen gegen soziale Führer und ehemalige Kämpfer verantwortlich sind. Dies wird in dem Kommuniqué kategorisch verneint und erklärt, dass dies eine Strategie der Armee und des Staates ist, damit ihre Unfähigkeit und Komplizenschaft des Staates mit diesen Morden vertuscht werden soll. Viele Erklärungen im Namen der FARC-EP seien falsch und würden von Armee und paramilitärischen Strukturen in den Umlauf gebracht. Ziel ist die Stigmatisierung der aufständischen Bewegung und ihrerseits das Vordringen in die Regionen aufgrund wirtschaftlicher Interessen. Als Beispiel werden die Interessen der multinationalen Unternehmen zur Ausbeutung der natürlichen Ressourcen genannt.
In Bezug auf den Umfassenden Nationalen Plan zur Substitution illegaler Pflanzen (PNIS) weisen sie darauf hin, dass er nicht nur das Leben der Organisationen, die für die Substitution arbeiten, gefährdet, sondern auch die Versprechen an diejenigen, die diesen Plan nutzen, nicht erfüllt hat. Deutlich kritisiert die FARC-EP die derzeitigen Pläne zur Aufnahme von Sprühen von Glyphosat aus der Luft. Dies betrifft nicht nur die Ärmsten der Armen, sondern vor allem auch jene Gemeinden, die sich dem Substitutionsplan verschrieben hatten. Zum Abschluss des Dokuments fordern sie die adressierten Personen, linke Parteien und das kolumbianische Volk auf, „weiterhin eine alternative Kraft aufzubauen, die eine demokratische und patriotische Übergangsregierung in Kolumbien ermöglicht, mit der der Krieg beendet wird und die die Bedingungen für die notwendigen Transformationen schafft, die ein für alle Mal mit den Faktoren Schluss macht, die durch den sozialen und bewaffneten Konflikt, den unser Land lebt, verursacht werden.“
In dem Kommuniqué wird deutlich eine soziale und politische Komponente erkennbar, zeitgleich aber auch der Hinweis auf die militärische Schlagkraft. Es ist eines der wenigen Dokumente, in der die Zusammenarbeit von verschiedenen politisch-militärischen Strukturen in den verschiedenen Landesteilen deutlich wird. Hier werden klar Strukturen aus Arauca, Meta, Guaviare und Putumayo genannt, die klar unter dem Kommando von Gentil Duarte und der 1. Front stehen. Zudem werden mehreren Strukturen aus dem Cauca und aus Valle del Cauca genannt, die sich bisher eher als autonom bzw. unter dem Comando Coordinador de Occidente (Westlichen Koordinationskommando) subsummierten. Derzeit sieht es also nach einer Stärkung nicht nur der militärischen Schlagkraft, sondern auch in der politischen Außendarstellung für jene dissidentischen Strukturen der FARC-EP aus, die nicht zur Gruppe des „Zweiten Marquetalia“ gehören.