Auf dem Marsch

Dieser Artikel ist aus der Zeitschrift „Resistencia International“ (deutschsprachige Ausgabe) und soll so lebendig sein, wie der geneigte Leser vor dem Bildschirm. Der Artikel ist zudem ein Fetzen, aus der Geschichte der aufständischen Bewegung in Kolumbien und soll knapp und wahrheitsgetreu einen Überblick über das alltägliche Leben eines Guerillero geben. Der Artikel ist zudem eine Liebeserklärung an jene Personen im Dschungel, in den Bergen, in den Städten und in den Gefängnissen, die für ein gerechtes und soziales Kolumbien kämpfen oder im Kampf gefallen sind.

Unsicher setze ich meine Schritte. Der Boden ist zwar eben, doch ich habe noch wenig Erfahrung für solche Märsche. Wird es noch ein langer Anstieg werden, oder kommen wir bald an? Um diese Frage zu beantworten, müsste ich den Blick nach oben richten.
Ich gehe mit gesenktem Kopf, um nicht die Höhe der Berge zu sehen, die noch zu erklimmen sind. Doch der Kommandeur fordert uns ständig auf, hebt den Kopf, sonst seht ihr den Feind im Hinterhalt nicht und er wird euch töten. Und ich hebe wieder den Kopf. Nach sechs Stunden kommen wir am höchsten Punkt des Berges an. Was ich sehe beeindruckt mich stark. Es ist wunderbar. Nur wir, mitten in der Wildnis, die wir nun alle bewundern können.
Der Himmel ist sauber, wie gerade gewaschen, über uns ein wirkliches Himmelblau. Das Weiß ist perfekt. Ich habe den Eindruck, den Himmel mit den Händen fassen zu können. Wir saugen die reine Luft in unsere Lungen auf. Und ich vergesse, dass ich noch vor wenigen Minuten vollkommen fertig war, vergesse die am Körper klebende schweißnasse Kleidung. Auch die Schürfungen auf meinem Rücken, die von der Last des Rucksacks entstanden sind, spielen keine Rolle mehr. Rings um uns ist eine ausgedehnte grüne Wiesenlandschaft. In der Ferne, zwischen einer großen Baumgruppe ist ein wasserreicher Fluss zu sehen. Ich vermute, dass wir dort unser Lager aufschlagen werden. Nach zwei weiteren Stunden Marsch kommen wir letztendlich dort an.
Der Rucksack mit seinen 20 Kilo Gewicht steht endlich auf dem Boden. Eine Portion Eis, das wäre jetzt köstlich, träume ich. – „Antreten!“ Befiehlt der Kommandeur Oscar.
„Hier werden wir unser Lager aufbauen“, sagt er und weist an: „Der Trupp von Nancy macht den Aufbau dort an diesen Bäumen im Norden, der von Monazo dort in südlicher Richtung, wo die Bäume stehen und…“. – Wir bereiten das Gelände vor, bauen die Krankenstation, den Verpflegungspunkt, das Lehrkabinett, und die „chontos“ – wie die Guerilleros zu den Abtritten sagen. Mit den Macheten bereiten wir das Terrain vor und schlagen Holz. Nach einer gewissen Zeit ist das Lager fertig. Nun können wir baden gehen. Mit Scherzen und Lachen stürzen wir uns in den Fluss und erholen uns nach einem langen und schweren Tag.
Das Abendessen: Reis mit gebratenen Nudeln, „cancharinas crocantes“ – eine Art Maisfladen, jedoch gebraten und aus Weizen. Und natürlich heißer Kaffee. Ach, wie schön ist es für den Guerrillero, essen zu können! Heute haben wie kein Fleisch. Doch morgen wird es einen schönen Stier geben.
Es ist schon 18.30 Uhr und wir sitzen nun im Lehrkabinett und warten auf den Beginn der Kulturstunde. Die Mädchen in ihren sauberen Uniformen, das Haar locker und glänzend, das Gesicht sorgsam geschminkt. Wir Männer, sauber und gekämmt, bewundern die Mädchen wegen ihres Schneids und ihrer Zerbrechlichkeit. Heute Abend treten ein Dichter und zwei Sänger mit revolutionären Liedern auf. Die Gruppe 3 wird ein Theaterstück improvisieren.
20 Uhr: Zeit, um schlafen zu gehen. „Absolute Ruhe!“ Ordnet der Kommandeur an.
Es herrscht fast absolute Ruhe. Nur in den Unterkünften der Paare ist noch leises Murmeln zu hören. Nun liege ich auf dem Moskitonetz, auf einer Matratze von Palmenblättern und spüre so richtig die Erschöpfung des Tages. Meine Augen fallen zu und ich denke, jetzt könntest du mehrere Tage durchschlafen, wenn sie dich nicht um 24 Uhr zur vierten Wachschicht wecken würden. Na gut, nach der Wache kann ich ja noch ein Weilchen weiterschlafen.
In der Wildnis leben Affen, die einen besonderen Ruf von sich geben. Wir imitieren ihn, indem wir mit den Lippen zwischen die aneinandergelegten Handflächen blasen, in denen sich ein Palmenblatt befindet. „Shit, shit“, das ist der Weckruf für die Guerilleros um 4.50 Uhr. Nach einer Viertelstunde sind wir angetreten, das Gepäck auf dem Rücken. Die Diensthabenden kontrollieren, ob alles in Ordnung ist. Nachdem wir unsere Ausrüstung abgesetzt haben gehen wir, um uns den „tinto“ zu holen. „Tinto“ – so nennen wir den Kaffee in Kolumbien. Er ist heiß und hat ein wunderbares Aroma.
Bis sechs Uhr machen wir Frühsport. Dann kommt das Frühstück dran: Maisfladen und, wenn vorhanden, gebratene Eier und Schokolade. Dann, nachdem das Lager in Ordnung gebracht wurde, treffen wir uns im Lehrkabinett, um die Nachrichten im Fernsehen zu schauen und darüber zu diskutieren.
Um acht Uhr stehen wir in militärischer Formation bereit und die Kommandeure der Züge kontrollieren auf den Millimeter genau, dass wir in Reih und Glied angetreten sind. Dann wird dem Kompanie-Kommandeur Meldung über die Neuigkeiten der letzten Nacht und den Zustand seiner Truppe gemacht. Kommandeur Oscar übernimmt das Kommando und befiehlt: „Kompanie, rührt euch!“ Danach sagt er: „Die Kompanie hat die Aufgabe, politische Schulungen zu absolvieren und politische Arbeit unter der Bevölkerung der Region durchzuführen. Zug 1 hat den Auftrag, für Sicherung und Logistik zu sorgen. Zug 4 begibt sich in das umliegende Gebiet und besucht die Bevölkerung. Geht von Haus zu Haus, sprecht mit den Leuten, erkundigt euch nach ihren Problemen und versucht zu helfen, wenn es möglich ist. Erklärt ihnen die Politik der FARC-EP. Die Züge 2 und 3 werden einen zweimonatigen Lehrgang absolvieren, täglich von acht bis 11.30 Uhr und von 13.30 bis 16.30 Uhr. Studienthemen sind: Die Geschichte Kolumbiens und Lateinamerikas, Politische Ökonomie, der strategische Plan der FARC-EP, Kommandostrukturen und gesellschaftliche Organisation.“
Die Lehrtexte sind in den Büchern und Broschüren, die wir in unserem Marschgepäck mitgenommen haben. Nun werden sie dem Verantwortlichen übergeben, um die Bibliothek des Lagers damit auszustatten.
Heute nutzen wir den Tag, um die Waffen zu reinigen, die Bekleidung herzurichten und alles das wieder in Ordnung zu bringen, was nach 15 Stunden Marsch Schaden erlitten hat. Wir nehmen die unterbrochene Lektüre eines Buches wieder auf, bringen die Unterkünfte auf Vordermann, bauen z.B. einen kleinen Tisch und vieles andere mehr. Nach dem Mittagessen spielen wir eine Runde Volleyball.
Ich habe etwas Zeit und besuche meine Freundin Eliana. Ich treffe sie wie immer im Unterstand für Kommunikationstechnik, vor einem Computer sitzend, umgeben von Batterien, elektrischen Kabeln und Antennen. „Hallo, Eliana, wie geht’s?“ begrüße ich sie.
„Gut, mein Junge. Ach ich bin wieder dabei mich an dieses Gerät zu gewöhnen, und wünschte, wir würden den Marsch fortsetzen.“
„Ja“, bemerke ich, „man gewöhnt sich daran, den ganzen Tag zu laufen und vermisst es, wenn wir nicht marschieren.“
„Wollen wir vallenatos hören?“ fragt Eliana. (Vallenatos ist eine typische traditionelle Musikrichtung der Region Valledupar – d.Ü.) „Na klar, schon seit zwei Tagen habe ich keine Musik mehr gehört“, antworte ich. Als ich ihr Zelt verlasse, sind die Liedzeilen von Julián Conrado, einem Liedermacher der Guerilla, zu hören: „… denn ich bin Guerillero, weil ich den Frieden liebe … weil ich den Frieden liebe…“.
[„Resistencia International“ – deutschsprachige Ausgabe der FARC-EP, Nummer 05 von September bis Dezember 2001]
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