Derzeit haben die Strukturen der FARC-EP eine nationale Präsenz in 138 Gemeinden, was auf ein enormes Wachstum seit 2016 hinweist, dem Jahr des Abschluss des Friedensprozesses zwischen der „alten“ FARC-EP und der kolumbianischen Regierung. Es ist festzustellen, dass das Wachstum vor allem in den Gemeinden stattgefunden hat, wo die FARC-EP bereits vorher präsent war. Derzeit gibt es drei unterschiedliche Linien der FARC-EP, wobei militärisch-politisch zwei Linien für eine nationale aufständische Bewegung relevant sind.
Unter Gentil Duarte konsolidierte sich eine enorme Struktur im Süden des Landes, die sich über die Jahre in den Südwesten ausbreitete und mittlerweile auch im Norden über eine größere Präsenz verfügt. Eine zweite Linie sind die Strukturen des „Zweiten Marquetalias“ um Iván Márquez, die sich vor allem im Norden und im Osten des Landes etablieren konnten, bisher aber militärisch nicht an die erste Linie um Gentil Duarte heranreichen, dafür aber politisch über eine größere Strahlkraft verfügen. Eine dritte Linie sind Strukturen, die als zerstreute Gruppen im Südwesten des Landes operieren und sich immer noch als könnte als Nachfolge der FARC-EP bezeichnen, aber im Sinenr einer Aufstandsbewegung keine Rolle spielen, sondern eher als regionale halbkriminelle Strukturen.
Von Relevanz sind die beiden erstgenannten Linien, wobei die Entwicklung höchst unterschiedlich und wellenartig verläuft. Interessant ist vor allem die Linie von Gentil Duarte mit der Erschaffung einer (halb-)autonom agierenden Konstruktion des Westlichen Koordinationskommandos (CCO), die sich zwar der Linie um Gentil Duarte einordnen, aber eine eigene unabhängige Befehlshierarchie besitzen. Man kann die Verbindung eher als eine Art Allianz bezeichnen. Das Westliche Koordinationskommando wurde als Dachorganisation von ehemals verschiedenen, teilweisende konkurrierenden Post-FARC-Gruppen geschaffen, um vereint gegen andere bewaffnete Akteure wie ELN, EPL und FARC-EP „Zweites Marquetalia“ um territoriale Kontrolle vor allem in Cauca, Nariño und Valle del Cauca agieren zu können.
Das „Zweite Marquetalia“ entstand im August 2019, also vor zwei Jahren, aus einer Gruppe von ehemaligen Kommandierenden der FARC-EP um Iván Márquez, Jesus Santrich, El Paisa und Romaña. Diese waren sehr unzufrieden mit den Entwicklungen der Umsetzung des Friedensabkommens und den permanenten Verletzungen des Vereinbarten, so dass sie wieder zu den Waffen griffen und die neue Linie aufbauten. Sie sind derzeit in etwas geringerer Kapazität in den Provinzen Antioquia, südliches Córdoba, im Catatumbo (Norte de Santander) und den östlichen Grenzgebieten zu Venezuela wie Arauca, Guainía und Vichada aktiv. Derzeit gibt es den Aufbau, die Kooperation und Vereinigung von Gruppen in den Provinzen Cauca, Nariño und Putumayo.
Es gibt ein anhaltendes Wachstum der Anwesenheit den Strukturen der verschiedenen Linien der FARC-EP in verschiedenen Territorien des Landes. Bereits erwähnt sind die 138 Gemeinden in Kolumbien, was etwas mehr als 50 % der Gemeinden sind, in denen die FARC-EP vor dem Rückzug in die in der Vereinbarung vorgesehene Wiedereingliederungszonen präsent war. Jedoch keine der beschrieben Strukturen hat derzeit eine Einheitsstruktur auf nationaler Ebene oder eine nationale Relevanz, wie die „alte“ FARC-EP vor dem Friedensabkommen. Verstärkt wird dies durch das rivalisierende Auftreten der beiden Linien. Von einer Zusammenarbeit kann jedoch in der Zukunft nicht ausgegangen werden, vorherige Kontakte scheiterten.
Warum beide Linien bisher nicht zusammengekommen sind, liegt an unterschiedlichen Aspekten. Da sind zum einen die unterschiedlichen historischen Aspekte und Personen. Während die Linie um Gentil Duarte bereits während des Friedensprozesses auf den bewaffneten Kampf schwor und die Verhandlungen mit ihren Resultaten bereits als Verrat ansah, war die Linie um Iván Márquez mit ihm selbst als Verhandlungsführer der „alten“ FARC-EP maßgeblich an den Verhandlungen, und somit am Verrat, beteiligt. Dieser Zustand und diese Sichtweise konnten nie ausgeräumt werden und gilt als fundamental in der Auseinandersetzung, die durch Misstrauen geprägt ist.
Zum anderen gab es in den Kontaktaufnahmen vor allem Differenzen um die zukünftige Befehlsebene im Zuge einer potentiellen Vereinheitlichung. Gentil Duarte wollte sich nicht dem „Verräter“ Iván Márquez unterordnen. Auch wollte er seine, zumindest militärisch stärkeren Strukturen, unter den des „Zweiten Marquetalia“ stellen. Die Auseinandersetzungen um territoriale Kontrolle und damit auch um wirtschaftliche Einnahmequellen zwischen beiden Linien in den unterschiedlichen Provinzen sorgen zudem für eine Verhärtung des Konfliktes und nicht für einen Gesprächsbedarf.
Auch die Entstehungsgeschichten und der weitere Aufbau der Strukturen ist unterschiedlich. Während die Linie um Gentil Duarte vor allem aus der Basis bereits bestehender Post-FARC-Gruppen heraus entstand, ging es beim „Zweiten Marquetalia“ von Oben nach Unten. Aus der bestehenden Befehlsstruktur verschiedener Kommandierenden heraus sollten in den unterschiedlichen Regionen Gruppen aufgebaut werden, Kommandierende wurden in die Regionen entsendet oder mittels kleiner Kommissionen der Aufbau von Gruppen forciert. Dies kann als schwierig betrachtet werden, vor allem dort, wo bereits größere Gruppen, zum Beispiel von Gentil Duarte, präsent sind.
Auch wenn die Linie um Gentil Duarte militärisch und territorial besser organisiert scheint und mit Strukturen wie dem Westlichen Koordinationskommando im Cauca und der 1. und 7. Front in Caquetá, Meta und Guaviare über durchaus große Strahlkraft verfügt, so muss anerkannt werden, dass der politische Duktus und die Öffentlichkeitsarbeit der FARC-EP „Zweites Marquetalia“ wesentlich besser funktioniert. Dies liegt vor allem an den Charakteren der Kommandierenden, die über jahrzehntelange politische Arbeit und Vernetzung verfügen. Es bleibt abzuwarten, wie sich der Weg der beiden Linien fortsetzen wird und wann der nächste Moment für vereinende Gespräche gekommen ist. Denn nur darüber wird eine nationale aufständische Bewegung für den Kampf um politische Macht im Land zu erhalten sein.