Immer wieder gibt es in Kolumbien und der internationalen Presse Meldungen über abtrünnige, also dissidentische Gruppen der FARC. Das Solidaritätsnetzwerk Kolumbieninfo versucht einen kurzen Überblick über dieses Phänomen zu geben.
Dass es in einem Friedensprozess Personen und Gruppen gibt, die mit dem Vereinbarten oder mit einem Friedensprozess selbst nicht einverstanden sind, ist völlig normal. Dieses Phänomen gab es weltweit in verschiedenen analysierten Prozessen wie in Nordirland, Baskenland oder im Kongo. Dafür war die Quote von Abtrünnigen am Anfang des Friedensprozesses zwischen FARC-EP und kolumbianischer Regierung sehr gering und zeigte die Konzentrierung der ehemaligen Kämpfer*innen und die Abgabe der Waffen, dass einheitlich alle an einem Strang gezogen haben. Der Wunsch nach Frieden war groß in der Guerilla.
Klar ist auch, dass es fast unmöglich war, alle Kämpfer*innen und Milizionäre in einen kollektiven Wiedereingliederungsprozess einzubinden. Häufig suchten ehemalige Guerilleras und Guerilleros nach individuellen Möglichkeiten der Wiedereingliederung, gingen in die großen Städte mit Hoffnungen auf ein besseres Leben oder suchten sich Orte in Kolumbien, wo ihre Familien lebten, die nicht immer gleich mit den letzten Aufenthalten innerhalb der FARC-EP waren. Laut einer Statistik der Nationalen Wiedereingliederungsbehörde, waren von den 13.049 frühzeitig akkreditierten Kämpfer*innen und Milizionär*innen im August 2017 7.100 in den Wiedereingliederungszonen präsent, im September 2018 jedoch nur noch 3.500, also weniger als die Hälfte.
Doch im Rahmen des nun zwei Jahre andauernden Friedensabkommens wurde klar, dass die Unzufriedenheit mit den Umsetzungen und dem Friedensvertrag stetig zugenommen haben. Das eigentliche Abkommen wurde mehrmals zum Nachteil der FARC durch die Regierung modifiziert, die Umsetzungen und der Aufbau der Wiedereingliederungszonen gingen nur schleppend voran, Inhaftierte nur zögerlich bis gar nicht in ihre Freiheit entlassen, soziale und ökonomische Projekte der Wiedereingliederung griffen nur wenig und gab es von Anfang an Probleme mit der Sicherheit von ehemaligen Kämpfer*innen, so dass wir es derzeit mit mehr fast 100 Ermordeten aus der ehemaligen Guerilla zu tun haben. Auch aktuell im Dezember versuchten Abgeordnete aus der rechten Partei „Demokratisches Zentrum“ FARC-Mitglieder*innen inhaftieren zu können oder das Gesetz für die Opfer zu verändern.
Kein Wunder also, dass mit dieser Unzufriedenheit, mit der Angst und einer fehlenden Perspektive bei einigen die Idee, alte Strukturen, die soziale, ökonomische und physische Sicherheit geben, wiederaufzubauen, auf fruchtbaren Boden fiel. Frühzeitig entschieden sich schon Teile, immerhin 300 Kämpfer*innen der 1. Front in Guaviare und Meta, den Friedensprozess zu verlassen. Auch in vielen anderen Regionen Kolumbiens nutzten Kämpfer*innen der FARC ihre Strukturen, um neue Gruppen aufzubauen, so zum Beispiel in Tumaco (Nariño). Neu ist jedoch der Versuch, diese Gruppen unter einem Dach, also einen Zentralen Generalstab, zu einen, an dem maßgeblich Gentil Duarte, ehemaliger Kommandeur der FARC im Ostblock, beteiligt ist.
Hierbei haben wir es mit einem komplexen Thema zu tun. Es darf nicht vergessen werden, dass für viele FARC-Mitglieder mit dem Friedensabkommen ihr Ideal und ihre „Familie“ zusammengebrochen ist, was sich mit den schleppenden Umsetzungen und einer unsicheren Zukunft schließlich verstärkte. Diese Unsicherheit vor der ungewissen Zukunft betraf auch die lokale Bevölkerung in den von den FARC-dominierten Gebieten. Immerhin gab es hier trotz des Kriegszustandes so etwas wie geordnete Strukturen, die nun in einem Vakuum endeten und Raum für andere bewaffnete (para-)militärische Gruppen gaben.
Exemplarisch ist die Situation im ländlichen Raum, vor allem bei den ehemaligen Koka-Bäuer*innen, die gemäß des Friedensabkommens freiwillig auf den Koka-Anbau verzichteten, dann aber keine Hilfen der kolumbianischen Regierung erhielten. Diese Hilfen sollten unter anderem laut dem Nationalen integralen Programm der Substitution von illegalen Kulturen (PNIS) überlebenssichernde Sofortzahlungen, aber auch zukunftsorientierte Projekte für andere produktive Projekte beinhalten. Die aktuelle Regierung setzt nun wieder auf Militär und Repression gegen den Koka-Anbau, dem sich mittlerweile immer mehr aufgrund ihrer ökonomischen Situation hinzugezogen fühlen, anstatt ihre Verpflichtungen einzuhalten und für Alternativen zu sorgen. Auch Ziele wie das Entwicklungsprogramm mit territorialen Fokus (PDET) oder das Programm der Kleinen Gemeinschaftsinfrastrukturen (PIC) haben in der Politik keinen Stellenwert.
Dies soll kurz und heruntergebrochen erklären, warum die Idee einer neuen alten FARC für einige Personen durchaus interessant ist und warum Gentil Duarte und andere versuchen, die unterschiedlichen Gruppen der Ex-FARC zu einen sowie unter ein gemeinsames Kommando zu stellen. Dabei wird Gentil Duarte in seinem alten politisch-militärischem Umfeld aktiv und kann auf wichtige Erfahrungen zurückgreifen. Im Ostblock war er für die Koordination der 7., der 27. und der 43. Front der FARC-EP tätig, die in Meta und Guaviare operierten. Dort genießt er bereits Kenntnisse, verfügt über Stützpunkte und kennt die politische Arbeit mit der sozialen Basis.
Seit Juli 2016 entwickelte sich um die 1. Front „Armando Ríos“, die sich öffentlich in einer Erklärung vom Friedensprozess verabschiedete, eine Bewegung, in der versucht wird die ehemaligen Strukturen der Guerilla wie ehemalige Fronten und Milizionäre neu zu gruppieren. Hierbei geht es nicht nur, wie in der Presse oftmals vereinfacht, um ökonomische Gründe, sondern um eine Vielzahl, die bereits kurz angeschnitten wurden. Gentil Duarte, der die Dissidenten der 7. Front der FARC kommandiert, versucht dabei, nicht nur einen neuen „Südblock“, sondern sogar eine nationale Guerilla zu etablieren.
Mittels Erklärungen und Briefen, sowie Botschaften die über Personen weitergetragen werden, versucht er andere dissidentische Gruppen zu erreichen und einen zentralen Generalstab zu kreieren. So gibt es Kontakte in den Süden nach Nariño zur Front Óliver Sinisterra (ehemalige 29. Front und mobile Kolonne Daniel Aldana) unter Wilson Aristala, alias Guacho und bereits ihm unterstellte Gruppen in Putumayo (Einflussbereich der ehemaligen 48. und 49. Front). Auch im Nordwesten in Antioquia (ehemalige 18. und 36. Front), im Nordosten in Arauca (ehemalige 10. Front) sowie Norte de Santander (ehemalige 33. Front) und neuerdings in Córdoba (ebenfalls 18. Front) gibt es nachweisbare Kontakte und Gruppen, die sich auf ihn berufen. Weitere dissidentische Gruppen gibt es vor allem in Cauca (ehemalige 6. Front), Huila (ehemalige 3. und 14. Front) und Valle del Cauca (ehemalige 30. Front) sowie in den östlichen Provinzen Kolumbiens.
Für das erste Halbjahr 2018 gibt es Quellen, die gemäß der Studie der Stiftung „Fundación Paz y Reconciliación“, aufzeigen, dass alleine in den östlichen Gebieten Kolumbiens mehr als 700 Kämpfer*innen und einem Kommando von Gentil Duarte, Iván Mordisco, John 40 und Rodrigo Cadete stehen. Dies betrifft die Provinzen Meta, Putumayo, Guaviare, Vaupés, Vichada, Caquetá und Cauca, in welchen Teilen der 1., 3., 6., 14., 17., 27., 32., 43. Front und der mobile Kolonne Teófilo Forero vereint sind. Leider ist es unklar, inwieweit das Ziel von Gentil Duarte nach einer alternativen Zehnten Guerilla-Konferenz mit dem Zweck des Aufbaus eines Zentralen Generalstabs, dem Etablieren von Befehlsstrukturen, einem Expansionsplan und einem ideologischen Grundgerüst, vorangeschritten ist. Wir erinnern uns, dass die FARC auf ihrer Zehnten Konferenz im Jahr 2016 den Friedensweg beschlossen haben, welche die dissidentischen Gruppen nicht anerkennen.
Es ist schwer zu sagen, in wieweit der Organisierungsgrad untern den Gruppen vorangeschritten ist. Dies hängt vor allem auch mit den jeweiligen Kommandostrukturen und Führungspersönlichkeiten zusammen. In Regionen wie Meta, Caquetá und Guaviare als auch in Nariño ist es den unterschiedlichen Strukturen gelungen, sich gesellschaftlich zu etablieren. Dies heißt, dass sie wie unter der früheren FARC zahlreiche bewaffnete Strukturen haben, sich territorial ausbreiten, eine soziale Basis haben und das gesellschaftliche Leben bestimmen. Dies bedeutet vor allem Steuern eintreiben, eine Ordnungsmacht darstellen und die politisch-sozialen Strukturen wie Dorfräte zu dominieren.
Doch auch in Bogotá gibt es Anzeichen eine Re-Strukturierung. Für Aufregung sorgte ein öffentlicher Auftritt von vermummten Personen in der Nationaluniversität Mitte August 2018, die sich auch Auseinandersetzungen mit der Polizei lieferten. Sie veröffentlichten vor Ort und in sozialen Netzwerken eine 16-seitige Erklärung, in der sie die aktuelle Parteiführung der FARC (Rodrigo Londoño, alias Timochenko sowie Carlos Antonio Lozada und Pastor Alape) des Verrates bezichtigten. In typischer revolutionärer Agitation riefen sie auf, die klandestine Kommunistische Partei Kolumbiens (PCCC) zu reaktivieren, kleine Zellen in allen sozialen Bereichen zu gründen und als Kraft von „unten“ eine Selbstverwaltung aufzubauen.
Das heißt, erklärtes Ziel ist es, wieder zum Modi Operandi zurückzukehren, die die FARC als Guerilla in den Städten hatte. Deswegen ist das Kommuniqué heikel, denn eigentlich beschloss die FARC auf ihrer zehnten Konferenz im Jahr 2016, offen in die Politik einzutreten, was das Verschwinden der Bolivarianischen Bewegung für ein Neues Kolumbien (MB) und der PCCC implizierte, die vor allem als klandestine Strukturen und als städtische politische Arbeitswaffe dienten. Klar war jedoch auch, dass es viele Personen aus unterschiedlichsten Gründen gab, die sich unter dem subsumierten Begriff der Milizen nicht aktiv in den Prozess der Wiedereingliederung begangen haben.
Zum einen befürchteten sie mit ihrer „Enttarnung“ vor allem persönliche Nachteile und Anfeindungen im öffentlichen Leben und entschlossen sich somit, öffentlich nicht in die Wiedereingliederung einzutreten. Fast alle besaßen ja ein normales und reguläres Alltagsleben und waren auf ökonomische und soziale Wiedereingliederung, anders als ihre Kämpfer*innen, nicht angewiesen. Zum anderen handelte es sich hierbei um politisch gut geschulte Kräfte, die ideologisch gefestigter waren und die aufgrund ihrer Lebenssituation in den Städten und ihrer Nichtteilnahme am „Kriegsleben“ auf dem Land, in Opposition zu einem Friedensprozess und zu einem Verkauf ihrer Ideale standen.
Die Erklärung aus Bogotá von klandestinen Strukturen fällt also in eine Zeit, in der auf dem Land versucht wird, die Guerilla neu aufzubauen. Viel wird an Führungspersönlichkeiten wie Gentil Duarte, Iván Mordisco, Rodrigo Cadete und Guacho hängen bleiben. Und natürlich spielen auch die äußeren Umstände eine gewichtige Rolle. Schafft es die Partei FARC, die kolumbianische Regierung und die Zivilgesellschaft nicht, auf eine Umsetzung des Vereinbarten zu drängen, dann werden die Dissidenten, die bisher in mindestens 13 der 32 Provinzen mit mehr als 2.000 Personen aktiv sind, weiter an Zulauf gewinnen. Genaue Zahlen gibt es nicht, aber wir stützen und auf die Analyse der Stiftung „Fundación Paz y Reconciliación“ von Ende November 2018.
Immer mehr Berichte aus den Medien gibt es, die in ihrer Fülle ein Bild ergeben, so das von einem stetigen Wachstum der dissidentischen Guerillagruppen ausgegangen werden kann. Berichte wie in der New York Times beim einem Besuch in einem Camp von Kämpfer*innen in Antioquia oder ein vermutetes Treffen von ELN und Dissidenten der FARC an der venezolanischen Grenze zu Absprachen, veröffentlicht in La Silla Vacia, sowie Studien (zum Beispiel von der Fundación Ideas para la Paz) aus dem bestehenden Jahr runden das Bild von einer Neuorganisierung ab.
Viel hängt, wie oben bereits erwähnt, von den Persönlichkeiten und Charakteren ab. Besonders drei Personen aus der ehemaligen Guerilla tun sich derzeit in Führungsqualitäten hervor und sind zugleich Kommandierende von sehr aktiven Strukturen. Es sind Gentil Duarte in Meta und Caquetá, Iván Mordisco in Guaviare, Vaupés und Guainía sowie Guacho in Nariño. Alle haben zumindest nach aktuellem Stand die Voraussetzungen, sowohl politisch als auch militärisch zu führen. Dies äußert sich in ihrem Bekanntheitsgrad ihrer jeweiligen Territorien, wo sie von Teilen der lokalen Bevölkerung als Führungspersonen anerkannt sind.
Gentil Duarte, mit offiziellem Namen Miguel Santanilla Botanche, war seit Ende der 1990er Jahre Kommandeur der FARC und viele, auch aus der heutigen Partei, erkennen seine politischen und militärischen Fähigkeiten an. Er ist mit rund 400 Kämpfer*innen in der 7. Front aktiv. Während der Friedensverhandlungen reiste er nach Havanna und partizipierte dort in den Gesprächen. Die FARC-Direktive schickte ihn schließlich nach Kolumbien, um Iván Mordisco daran zu hindern, die Guerilla zu verlassen. Letztendlich aber er schloss sich den Dissidenten an und versucht heute die Vereinigung alle Gruppen durchzuführen. Als ehemaliger Kommandant der 27. Front verfügt er über umfangreiches Militärwissen, denn er war der Beauftragte für die militärische Kampagne „Plan de Campaña Raúl Reyes“ im Jahr 2013 mit umfangreichen Angriffen auf die Armee.
Iván Mordisco, mit offiziellem Namen Néstor Gregorio Vera Fernández, gehörte mehr als 25 Jahre zur FARC und war einer seiner diszipliniertesten Kommandanten. Er wird als dogmatisch und radikal angesehen, der immer den alten Ansichten treu geblieben ist und in Opposition zu Verhandlungen und zu einem politischen Ausweg stand. Als Kommandant der Dissidenten der 1. Front mit rund 250 bis 300 Personen steht er den Substitutionsprogrammen gegen Drogenpflanzen kritisch gegenüber.
Guacho, ecuadorianischer Staatsbürger mit Namen Walter Patricio Artizala, verfügt über Kenntnisse im Bereich Sprengstoff und hat weitreichende Beziehungen zu alten Strukturen im Drogenhandel. Er hat besonders die Pazifikregion von Nordecuador bis in den Cauca hinein unter seine Kontrolle und gehörte aufgrund von bewaffneten Aktionen und Autobomben zu den meistgesuchtesten Personen. Mit neuen Rekrutierungskampagnen führt der die selbsternannte Front Olivier Sinisterra an, die mehr als 500 Personen umfasst.